WIEN MODERN 2023: GO | Bewegung im Raum - mica - music austria (2024)

Bewegung im Raum zählt zu den grundlegenden Erfahrungen im Leben – und wird im Konzert klassischerweise komplett ausgeblendet. Spätestens um 1882, als eine Rollschuhbahn in Berlin-Kreuzberg zur ersten Philharmonie umgebaut wurde, war strenges Stillsitzen im Konzert zur Norm geworden. Das Festival Wien Modern holt jetzt ein bisschen der verlorenen Bewegungsfreiheit für die Musik zurück.

Die 36. Festivalausgabe von Wien Modern bringt neue Bewegung in die Frage, wie und wo sich Musik hören lässt. Das startet am 31.10.2023 mit einem Spaziergang im Park mit Maria Gstättner, gefolgt von einer begehbaren Uraufführung von Peter Jakober in den drei historischen Sälen des Wiener Konzerthauses. Tags darauf geht es mit 50 im Saal verteilten Klavieren mit 11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas auf sehr bewegende Weise weiter. Unterwegs in der U-Bahn-Passage, im Tanzquartier, im Volkskundemuseum, im Kreuzgang, im Weinkeller, in mehreren Clubs sowie im öffentlichen Raum bietet sich heuer verstärkt Gelegenheit zu diversen Lockerungsübungen, bis hin zum Festivalabschluss mit 20 Dudelsäcken, Bombarden und Binioù im Semperdepot am 02.12.2023 mit In C // 20 Pipers, samt anschließender Party. Doch auch in ganz vertrauter Form beim Sitzen laden viele unserer Konzerte diesmal dazu ein, die vergessene Kraft von Raum und Bewegung neu zu entdecken. Schließlich ist mit dem Architekten Peter Zumthor vom 15. bis zum 22.11.2023 einer der weltweit inspirierendsten Visionäre des Raums zu Gast in Wien: Gemeinsam mit Wien Modern und dem Musikverein hat er einer Woche des Festivalprogramms seine persönliche Handschrift gegeben und wird in 13 Konzerten und acht Werkstattgesprächen an ausgewählten Orten seine tiefe Liebe zur Musik, zum Neuen und zur Entstehung von Atmosphäre mit dem Publikum teilen.

Aufbruch zur Utopie

Das Sujetfoto zeigt einen Astronauten, der sich 1965 auf einem Trainingsgelände der NASA das Gehen in der Schwerelosigkeit übt, vier Jahre vor der schließlich geglückten ersten Mondlandung. Wie sagte John F. Kennedy 1962 in seiner Rede We choose to go to the Moon? «Wir tun diese Dinge nicht, weil sie einfach sind, sondern weil sie schwierig sind.» Davon kann das Produktionsteam des Festivals heuer ein Lied singen. Denn auch wenn Wien Modern seit jeher für außergewöhnliche Produktionen bekannt ist – diesmal bilden visionäre, utopische, unmöglich scheinende Projekte fast schon einen der roten Fäden des Festivals: Von der Ortswahl (alle historischen Säle des Wiener Konzerthauses gleichzeitig, vier teilweise extrem räumlich komponierte Konzerte im Goldenen Saal des Musikvereins, Kreuzgang und Weinkeller im Stift Klosterneuburg oder die Wiener Innenstadt) bis zur Besetzung (50 im Raum verteilte Klaviere im Hundertsteltonabstand, fast alle Glocken des Stephansdoms oder die Maschinen von Hermann Markus Preßl) lassen sich vom 31. Oktober bis zum 2. Dezember 2023 vielfältige nicht alltägliche Veranstaltungen erleben.

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Ein Spaziergang im Park

Für das Publikum wird Wien Modern hingegen diesmal ein leichtfüßiger Walk in the park – und zwar ganz wörtlich: Das Festival startet mit einem Spaziergang im Stadtpark inmitten von Blaskapellen, Punkband, Pop-Duo u.v.a. Auch nach dieser Fanfare (31.10.) von Maria Gstättner bleibt das Festivalpublikum in Bewegung: Für das Eröffnungskonzert (31.10.) werden alle Saaltüren des Wiener Konzerthauses geöffnet, die Wiener Symphoniker spielen Peter Jakobers millisekundengenau koordinierte Klangbewegungen verteilt im Großen Saal, Mozart-Saal und Schubert-Saal. Tags darauf nimmt Georg Friedrich Haas bei 11.000 Saiten (01.11.) mit 50 im Raum verteilte Klavieren im Hundertsteltonabstand die Festivalbesucher:innen mit auf eine Art Weltraumflug quer durch einen Klangraum, den es so noch nie gegeben hat.

Hannes Seidl bringt 21 Songs (04.11.) in die U-Bahn-Passage am Karlsplatz, Peter Kutin, Florian Kindlinger und Christina Kubisch schaffen für Phantom Voltage (06.11. + 07.11.) einen begehbaren Raum mit Objekten, Skulpturen, Elektronik und Klängen, Peter Conradin Zumthor verwandelt bei Stiftsglocken (19.11.) und Domglocken con sordino (22.11—24.11.) den Glockenklang rund um den Stephansdom und das Stift Klosterneuburg, wo auch Judith Unterpertingers Zeitenverwesung (19.11.) im Kreuzgang uraufgeführt wird. Olga Neuwirth setzt beim Gassatim-Konzert (21.11.) rund 100 Mitwirkende und das Publikum für eine Art Flashmob im öffentlichen Raum in Bewegung. Auch das Abschlusskonzert (02.12.) lädt wieder zum Hörspaziergang zwischen 20 Dudelsäcken, Bombarden und Binioù im Semperdepot. Zusätzlich gibt es gleich dreimal Gelegenheit zum Tanzen bei der Party Modern (04.11. + 27.11. + 02.12.).

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Raumstücke von spirituell bis multimedial

Doch auch in ganz vertrauter Form beim Sitzen laden viele unserer Konzerte diesmal dazu ein, die vergessene Kraft von Raum und Bewegung neu zu entdecken. Mark Andres Opus magnum rhw 1–4 (03.11.) erklingt auf Wunsch des Komponisten im Stephansdom, der in wechselnden Raumaufstellungen von RSO Wien und zahlreichen Chorsänger:innen zum Atmen gebracht wird. Mit mehreren Werken ist die außerordentliche (Raum-)Komponistin Rebecca Saunders zu erleben: RSO Wien und Klangforum Wien spielen gemeinsam Wound im Claudio Abbado Konzert (14.11.), ebenfalls im Goldenen Saal setzt sie ihre Raumperformance Yes (17.11.) in Szene, nach der Uraufführung von Michael Jarrells Quatre îles d’un archipel (17.11.). Isabel Mundry realisiert mit Invisible (22.11.) die Idee, den blinden Flecken im gesellschaftlichen Zusammenleben mit einer komponierten, in sich beweglichen Raumkonstellation zu reflektieren. Joanna Bailie und das Ictus Ensemble suchen in Memory of a Space (23.11.) nach dem Nachklang des Lebensgefühls im Jahr 1979. Bei In Change Is Rest (25.11.) schickt Elisabeth Harnik zahlreiche Chorsänger:innen in der Kalvarienbergkirche auf die Spur des ewigen Wandels bei Heraklit. Das Arditti Quartet (23.11.) spielt neben Mark Andres subtiler Miniaturensammlung iv 13 Raumstücke von Isabel Mundry und Robert HP Platz. Die Altistin Noa Frenkel bahnt sich in einer Art immersivem 3D-Videospiel den Weg durch die raumgreifende audiovisuelle Datenflut von Subnormal Europe (29.11.). Von der musikalischen Murmelbahn bei Elisabeth Flunger | Robert Mathy (12.11.) über den experimentell-choreografischen Liederabend von Alex Franz Zehetbauer (14.—18.11.) im brut nordwest bis zu Miet Warlops unglaublichem Adrenalinrausch One Song im Tanzquartier (10.–11.11.) sind auch Performance und Tanz im Festival zu sehen.

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Eine Woche mit Peter Zumthor

Vom 15. bis zum 22.11.2023 ist einer der weltweit inspirierendsten Visionäre des Raums zu Gast in Wien: Mit berührend atmosphärischen Bauwerken wie der Therme Vals, dem Kolumba Kunstmuseum Köln, dem Kunsthaus Bregenz oder der Feldkapelle Bruder Klaus nimmt der 1943 in Basel geborene Peter Zumthor eine einzigartige Stellung in der Architektur ein. Atmosphäre ist auch der Schlüssel für seine tiefe Liebe zur Musik, die er als «größte der Künste» bezeichnet. Gemeinsam mit Wien Modern und dem Musikverein hat er einer Woche des Festivalprogramms seine persönliche Handschrift gegeben. Zu seinem 80. Geburtstag entstand so eine Woche an liebevoll ausgewählten Orten in und um Wien. In 13 Konzerten und acht Werkstattgesprächen an ausgewählten Orten wird Peter Zumthor seine Leidenschaft für Musik und das Neue mit dem Publikum teilen. Mit dabei sind – neben den bereits erwähnten Olga Neuwirth, Rebecca Saunders, Judith Unterpertinger u.a. auch Bruno Strobl bei Exaudi (20.11.) sowie Pierre-Laurent Aimard (16.11.), das Cuarteto Casals (18.11.) und Irvine Arditti (18.11.). Wir freuen uns, zu sehr persönlichen Begegnungen mit dem Pritzker-Preis-Träger und leidenschaftlichen Musikmenschen Peter Zumthor einladen zu dürfen.

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Erste Bank Kompositionspreis 2023

Erstmals geht der Preis an ein Kollektiv: Unter dem Duonamen Nimikry sind die beiden Wahlwiener Alessandro Baticci und Rafał Zalech als Komponisten, als Entwickler elektronisch augmentierter Musikinstrumente sowie auf der Bühne zu erleben. Alessandro Baticci und Rafał Zalech wirken an der Schnittstelle von Musik und Technologie und verschmelzen die Grenzen zwischen Instrumentalmusik und technologischer Innovation. Die einzigartigen Erweiterungen der selbst entwickelten Instrumente sind Grundlage und Inspiration für intensive Untersuchungen neuer klanglicher Möglichkeiten. Ihre Kompositionen sind überbordend fantasievoll und erfrischend eklektisch. Elemente aus experimenteller Elektronik, Noise-Pop, klassischer Musik und Improvisation verbinden sich zu einer neuen Musikästhetik abseits gewohnter Pfade.

Porträts und Erinnerungen

Beim Claudio Abbado Konzert (15.11.) erfüllen wir Friedrich Cerhas persönlichen Wunsch bei seinem letzten Festivalbesuch und setzen sein kurz vor den Spiegeln entstandenes frühes Orchesterwerk Fasceaufs Programm. Die IGNM feiert ihren 100. Geburtstag mit dem ebenfalls 100 Jahre alten György Ligeti (07.11.) sowie mit Bernhard Lang & Julia Purgina im Extrem-Orgelrezital sowie mit einem internationalen Symposium (08.11.) zu aktuellen Gegenwartsentwürfen und Zukunftsbildern in der neuen Musik, in dessen Rahmen auch ein Konzert mit dem frisch mit dem Ensemblepreis der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten Names Ensemble (09.11.) stattfindet. Die MUK präsentiert beim Gedenkkonzert für Kaija Saariaho (09.11.) auch drei Uraufführungen junger Komponisten aus Österreich und der Ukraine. Der Erste Bank Vorjahrespreisträger Christof Ressi (04.11.) wird mit neuen Stücken porträtiert vom auch mit einem weiteren Konzert präsenten Black Page Orchestra (08.11.). Das Quartett Polwechsel (02.11.) feiert 30. Geburtstag mit Gästen und vier großen Uraufführungen. Clemens Gadenstätter und Lisa Spalt zeigen das neue Gemeinschaftswerk Break Eden (29.11.). Der echoraum lädt rund um das slowenische Label Inexhaustible Editions (01.12. + 02.12. + 19.12.) zu drei Konzerten und einer Ausstellung.

Junges Publikum, junge Ensembles und sonstige Horizonterweiterungen

Der Geist des Mitmachens weht rund um die entzückende Sammlung kleiner Musikinstrumente, die Paweł Romańczuk über viele Jahre zusammengetragen hat. Mit seiner Band Małe Instrumenty, Polnisch für Kleine Instrumente (12.11.—20.11.) lädt er gemeinsam mit Sarah Scherer Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene in den Dschungel Wien. Cordula Bösze und Team bringen junge Musiker:innen und Hörer:innen aller Altersgruppen zusammen bei den Produktionen Junge Musik (29.11.) und Matinée Petite (26.11.). Der Jungspund Club für neugierige Menschen <27 geht in die zweite Runde. Aber auch auf der Bühne wird es jünger und bunter: Mit dem Names Ensemble (09.11.), den Kammermusikformationen between feathers und Trio Tempestoso im Projekt Sound Exchange (13.11.), dem Pianisten Anton Gerzenberg (27.11., nach seiner Auszeichnung als Great Talent wieder zu Gast im Wiener Konzerthaus), dem Akkordeonisten Bogdan Laketic (05.11.) und dem Kandinsky Quartet (12.11.) (die zwei letzteren in der Alten Schmiede) ist diesmal besonders viel spannender Nachwuchs im Festivalprogramm zu entdecken.

Ebenfalls in der Alten Schmiede zeigt das Mivos Quartet (12.11.), dass Horizonterweiterung nicht immer nur eine Frage des Jahrgangs ist. Den Horizont ausgestalten wird Kurt Schwertsik, er hat aus Alice im Wunderland gemeinsam mit Kristine Tornquist, dem sirene Operntheater und dem Serapions Theater eine phantastische Revue gemacht, die vom 23.11. bis tatsächlich Sylvester (als heimliche Verlängerung von Wien Modern) im Odeon zu bestaunen sein wird. Neben den erstmals im Festival zu hörenden Komponist:innen Andile Khumalo, Chikako Morish*ta und Raven Chacon sowie der seit heuer in Wien unterrichtenden Clara Iannotta steht auch George Lewis am Programm, der mit Harald Kisiedu das gemeinsame Buch Composing While Black (12.11.) präsentieren wird. Definitiv in den Bereich der Horizonterweiterung fallen Lukas König und Ingrid Laubrock als Composer-Performer mit dem Studio Dan im Programm More Breaking News (14.11.). Neben einem Trioabend der SFIEMA (14.11.) zeigt sich die Wiener freigespielt bei Estos Patos Locos (26.11.). Österreich-Premieren sind das schier unglaubliche britische Vokalensemble Exaudi (20.11. + 22.11.) mit seiner mikrotonalen Intonationskunst sowie die erstmals außerhalb von Frankreich gezeigte Produktion In C // 20 Pipers (02.12.), die zum Festivalabschluss im Semperdepot zu erleben ist.

Das Programm ist online unter www.wienmodern.at. Der Vorverkauf läuft seit Dienstag, 05.09.2023.

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